Die zwölf Herkulesaufgaben des Toneo: Ein Resümee von “Beethoven & Belarus”

 

Der legendäre Held Herkules hat der Sage nach zwölf Aufgaben (ganz korrekt und falls man mit seinem Altgriechisch angeben will: Arbeiten) zu bewältigen. Dabei ging es zumeist irgendwie um Tiere: ein Löwe muss besiegt, lästige Vögel vertrieben und ein Pferdestall ausgemistet werden. Vielleicht deswegen eignet sich die Herkulessage so gut als Bildmotiv – so umgeben von allerlei Fauna und Flora macht sich so ein wohlgeformter Heldenkörper doch ganz hübsch.

Dem Toneo, bestehend aus ähnlich wohlgeformten Menschen, blieb beim Konzert in der Residenz vor zwei Wochen jedoch nicht viel Zeit, die Wandteppiche zu bewundern, die den Herkulessaal schmücken: Schließlich war dieses plötzlich so große Projekt für unser junges Orchester eine ganz eigene Aufgabe – ach was, ein ganzes Epos. Etwas einfacher als das griechische Vorbild hatte man es aber doch. Zum Glück musste nicht jede Spielerin zwölf Herkulesaufgaben bewältigen, sondern man konnte ganz moderne Methoden (Experten nennen es „Teamwork“) anwenden und sich die Arbeit teilen. Das Wichtigste vorweg: Am Ende ist alles gut gegangen und das Projekt war ein Riesenerfolg. Der Weg dahin in zwölf kurzen Eindrücken.

1. Tempo, Tempo: Unser Magier mit Taktstock, Vitali Alekseenok, hatte seine schöne Mühe damit, den schwerfälligen Ochsenkarren des Toneo in einen flotten Streitwagen zu verwandeln. Bis die gefühlt 40 Eroica-Aufnahmen im Kopf mal vergessen waren und ein frisches Tempo angeschlagen werden konnte, war einiges an Arbeit nötig – und das neben allen anderen musikalischen Feinheiten, die Vitali uns in der intensiven Probenarbeit nahegebracht hat! Unglaublich, dass er dann sogar noch das Planken nach der Probe anregt, um den herkulesförmigen Waschbrettbauch zu fördern.

2. Fünf Tage, drei Lieder, kein Problem: Niemand hatte zwar daran gezweifelt, dass unser ukrainischer Bariton Olexandr Forkushak singen kann, aber drei noch nie erklungene Musikstücke in einer zwar verwandten, aber doch fremden Sprache in fünf Tagen einzustudieren, ist dann doch eine echte Heldentat. Wie unser Sänger dann noch Zeit gefunden hat, am bunten Abend den Saal mit einem Ständchen erbeben zu lassen und am Konzerttag Pauken durch München zu fahren, weiß wohl nur er…

3. Neue Musik: Sechs Kreative waren durch ihre Texte und ihre Vertonung daran beteiligt, Musik auf die Bühne zu bringen, die noch nie erklungen ist. Durch ihre Kunst engagieren sich unsere KomponistInnen und DichterInnen für ihre Heimat – mutig, entschlossen, bisweilen sicher auch zweifelnd, besorgt, stellen sie sich Unterdrückung und Unfreiheit entgegen. Mythische Vorzeit, Antike oder Gegenwart: Die Frage nach Freiheit ist eine Konstante menschlichen Denkens und Handelns, eben eine echte Herkulesaufgabe.

4. Von 40 MusikerInnen zu einem Orchester: Toneo ist nun im zweiten Projekt erstmalig als Sinfonieorchester aufgetreten. Bis kurz vor der Probenwoche wurden noch letzte Instrumentalisten gesucht und schlussendlich gefunden (ein Orchestermitglied trägt von nun an den Titel „Fagottflüsterin“). So war die Besetzung eine bunte Mischung: vom Musikstudenten mit Zeitvertrag an der Düsseldorfer Tonhalle bis zum Orchesterneuling. Umso beeindruckender, wie dann im Laufe der Proben alle zu einer Einheit verschmolzen sind und alle, ob beim ersten oder hundertsten Sinfoniekonzert, ihren Teil beigetragen haben.

5. Wer feiern kann, kann auch früh aufstehen: Diese weisen Worte (mir selbst als Jugendlicher von unserem Dorfpfarrer eingegeben), sind zwar vielleicht nicht immer ganz zutreffend, aber doch sehr relevant auf so einer Probenphase. Vitali war zwar gnädig mit dem morgendlichen Probenbeginn, trotzdem ist der ein oder andere auch mal unter den empfohlenen acht Stunden Nachtschlaf geblieben – dann ist das Aufstehen schon echt eine Meisterleistung. Kein Problem für Toneisten!

6. Inhalt ist out, Content muss her: So oder so ähnlich stellt sich der Schreiber dieser Zeilen das Motto von modernen PR-Agenturen vor. Bei uns ging es da natürlich viel niveauvoller zu: Ein Musikwissenschaftler (B. A.) und ein Philosoph (B. A.) lieferten inspirierende Beiträge zum Programmheft, und viele Finger des Social-Media-Teams tippten eifrig Instagram-Posts – alles fürs Orchester. #klasseklassik #lieblingsorchester

7. Schön öko, aber was machen die Pauken? Solche und ähnliche Fragen stellen sich einem jungen Orchester plötzlich, wenn auffällt, dass unter den ganzen Studenten doch wenige Zugriff auf Kraftfahrzeuge haben, geschweige denn auf solche mit großem Kofferraum. Glücklicherweise konnten alle Taxi- und Transportfahrten dann aber gemeinschaftlich gelöst werden: Hier hilft eine Mutter aus, dort der Solist (s. o.), und ein Bratscher chauffiert seine gesamte Stimmgruppe in einem Auto aus dem Allgäu auf die Probenwoche (dass das gut gegangen ist…).

8. Bis in die U-Bahn: Vorstand und Bratschenstimmführer Raphael hat unermüdlich unter Beweis gestellt, dass er nicht nur die Saiten seines Instruments hervorragend bedienen kann, sondern auch kunstfertig die Fäden ziehen kann, wenn es darum geht, ein tolles Konzert zu bewerben. Unzählige Telefonate, Interviews, Presseanfragen, Rundbriefe… Was auch immer er da alles angestellt hat, am Ende lief Toneo im Fahrgastfernsehen der MVG.

9. FFP2, AHA und 3G: Ja, das gehört auch zur Realität eines Orchesterprojekts im Jahr 2021 – da hatte es Herkules bestimmt einfacher. Heutzutage braucht man Rahmen-, Hygiene- und Probenkonzepte und muss als tüchtiger Orchesterwart genauestens nachhalten, wer nun gerade welches G vorgezeigt hat, und darf am Ende auch noch drauf schauen, dass alle Daten angemessen geschützt sind. Um all das und viel mehr haben sich die zwei jüngeren Vorstandsmitglieder vorbildlich gekümmert, worüber die zwei älteren heilfroh sind. Diese ganze Bürokratie erinnert manchmal eher an Sisyphus…

10. Meisterin der Töne: Damit das Konzert – gerade die Uraufführungen – der Nachwelt nicht verloren gehen, und sich auch die eigentlich Betroffenen in Belarus davon berühren lassen können, hat die wunderbare Tonmeisterin Kseniya Kawko nicht nur am Konzerttag stundenlang den Herkulessaal präpariert (was sich der antike Held wohl zu dem ganzen Theater mit den Geräten gedacht hätte?), sondern auch vorher akribisch an Saalplänen gearbeitet, mit dem Dirigenten künstlerische Fragen und alles daran gesetzt, uns jetzt eine tolle Aufnahme zu liefern. Der einzige Nachteil: Eventuelle Fehler können nun wirklich nicht mehr an der Technik liegen…

11. Money, Money, Money: Schon ABBA hat‘s erkannt, um die Finanzen kommt man nicht herum. Auch das war angesichts des tollen Saals und der großen Probewoche eine Herausforderung. Neben der Stadt München waren viele große und kleine SpenderInnen dabei – ob nun traditionell per Überweisung, noch traditioneller am Saalausgang oder auf kreativem Weg durch Ankauf von Konzertkarten. Was für ein Glück, dass sich alle Sorgen über die für ein so junges Orchester schwindelerregenden Summen letztendlich in klingende Luft aufgelöst haben.

12. Und sonst? Nun ja, abschließen kann man so eine Liste sowieso nicht – schon Herkules hatte schließlich seine Nebenarbeiten. So wie Vitali die belarusischen Lieder im Konzert als Kollektivwerk vorgestellt hat, war auch das gesamte Projekt eine Kollektivleistung. Ob durch Mitspielen, Paukenschlägel-Organisieren, 3G-Kontrolle, Abendspielleitung oder Abrechnung der Fahrtkosten: All die kleinen und großen Heldentaten machen Toneo erst zu Toneo, und ein Konzert dieser Größe erst möglich.

Unser Orchesterfoto fungiert gleichzeitig als Suchbild: Wer findet: (1) die eine Person, die nicht in die Kamera schaut? (2) den Trompeter, der aussieht, als hätte er eine überdimensionierte Bratsche in der Hand? (3) die eine Person, die die Fototreppe nicht gefunden hat und Minuten vor dem Foto noch durch die Residenz hetzen musste?